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Christa Lieb – Autorin

Lesefrüchtchen

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Süden
Gekürzter Ausschnitt aus meinem neuen Roman,
der im Frühjahr 2012 erscheinen soll …

Süden
Maurizio Malangone – fotolia.com

Das Verdeck war geöffnet. Der Fahrtwind zerrte an ihren Haaren, kühlte ihre Haut und nahm die trüben Gedanken mit sich fort auf seinen Weg um die Welt. Mit jedem Kilometer, den sie vorwärts preschte, ließ sie den Alltag ein Stück zurück. Das Gefühl der Niedergeschlagenheit vermengte sich mit Vorfreude.

Zügig durchquerte sie weite, von Schatten-
klecksen der gemächlich dahin gleitenden Wolken gezeichnete Ebenen, fuhr duch tiefe Täler und sattgrüne Wälder, in die sich kaum ein Sonnenstrahl verirrte und erspähte Dörfer, die sich wie Schwalbennester an die Hänge schmiegten, begleitete Flüsse ein Stück auf ihrem Weg zum Meer.

Nicht enden wollende Windungen der Passstraße führten sie hinauf zum Gipfel. Mit staunenden Augen sah sie den Schnee und spürte gleichzeitig die Sonne des Südens. In der Ferne konnte man das Meer erahnen. Ein smaragdgrüner Schimmer, schön, wie ein kostbarer Edelstein.

Schließlich erreichte sie den kleinen Küstenort und fand bald in einer engen Seitenstraße das Hotel, in dem sie als Kind unbeschwerte Tage verbrachte hatte. Die hohen, schmalen Häuser warfen noch immer wohltuende Schatten. Lange hielt sie sich dort allerdings nicht auf. Denn obwohl sie von der langen Fahrt erschöpft war, drängte es sie zum Ziel. Endlich ankommen, die Seele baumeln lassen, den weichen Sand und die Kühle des Wassers an den nackten Füßen spüren. Sie wollte es endlich wieder sehen, riechen, hören: Das Meer.

Auf ihrem Weg dorthin begegnete ihr auf Schritt und Tritt südländische Leidenschaft. Menschen saßen in der Sonne, tankten Energie für den nahenden Herbst. Fischerbotte tuckerten lärmend in den kleinen Hafen. Männer mit von Wind und Wetter gegerbter Haut und schwieligen Händen, die letzten Millimeter einer Zigarette im Mundwinkel, brachten die Früchte des Meeres eilig an Land. Man sah ihnen die Mühen der vergangenen Nacht an, doch sie scherzten und lachten. Freuten sich über ihre sichere Rückkehr und den erfolgreichen Fang. Kreischende Möwen belgieteten sie – immer auf der Suche nach einem lohnenden Happen.

Alte Frauen saßen vor ihren Häusern im Schatten. In den Gesichtern waren die Geschichten ihres Lebens zu lesen. Hoch am Himmel zogen Flugzeuge ihre Bahn. Hinterließen weiße Spuren, die für kurze Zeit die Richtung wiesen.

Die enge Bucht wirkte wie ein gemütlicher Sessel. Wie schon vor Jahren, fühlte sie sich auch jetzt hier geborgen. Im Rücken die mächtige Bergkette und davor die endlose Weite des Meeres. Mit geschlossenen Augen atmete sie die vertrauten Gerüche des Südens ein: Lavendel, Rosmarin, das Harz der Pinien. Und Meer, immer wieder Meer; in der Nase und in den Ohren.

Welle für Welle rollte an Land. Eine Stetigkeit, die sie tief beeindruckte. Schon weit draußen begann ihr Wettlauf, ehe sie sich über das Ufer ergossen. Sie glätteten, entblößten, brachten Überraschungen mit sich, zogen sich zurück. Doch ihr Rückzug war stets nur von kurzer Dauer. Auf halbem Weg wurden sie von der nachfolgenden Woge erfasst und das Spiel wiederholte sich in einem nicht endenden Kreislauf von Kommen und Gehen. Schäumende, rauschende Gefühlswallungen der Natur. Das mal sanfte, mal wild tosende Element hatte im Laufe der Jahre mit Beharrlichkeit und Ausdauer die Felsen geformt und seine Spuren hinterlassen: Glatte Kiesel, schroffe Kanten, tiefe Furchen; Spuren des Lebens.

Fasziniert betrachtete sie dieses Schauspiel und ihr fielen Worte des Dichters Khalil Gibran ein: “Immer wandere ich auf diesen Stränden, zwischen Sand und Schaum. Die Flut wird meine Fußstapfen auslöschen und der Wind den Schaum fort blasen. Aber das Meer und der Strand wird übrig bleiben. Ewig.”

Die Richtigkeit und Unerschütterlichkeit dieser Worte ließen ihren Kummer mit einem Mal klein und nichtig erscheinen. Tiefe Ruhe machte sich in ihr breit. Hier konnte sie durchatmen und Kraft tanken für den Tag der Rückkehr in ein anderes, neues Leben.

chrilie

 

Autor: Christa Lieb

 

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