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Christa Lieb – Autorin

Lesefrüchtchen

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Leseprobe (Wohin dein Weg auch führt – Roman) ©

 (…) Schweigend folgte er ihr ins Haus, durchquerte eine geräumige Diele mit braunen Ornamentfliesen bis zu der breiten Holztreppe, die hinauf in die oberen Etagen führte. Sie ging ihm voraus bis unters Dach, öffnete dort eine weiß lackierte Tür und forderte ihn auf, einzutreten. Das Zimmer war nicht sehr groß und nur spärlich möbliert. Unter der Dachschräge ein Bett, gegenüber ein Schrank, eine Kommode mit einem Spiegel, ein runder Tisch, ein Sessel, neben dem eine Stehlampe mit cremefarbenem Lampenschirm stand. An der Wand ein Bücherbord, leer. Durch das Gaubenfenster fiel Sonnenlicht in einem breiten Streifen über den ziemlich ramponierten, aber blank polierten Dielenboden.

»Kein Luxus – ich weiß. Aber die Matratze und das Bettzeug sind neu. Sie können das Zimmer so herrichten, wie es Ihnen gefällt. Gegenüber ist das Badezimmer und die Toilette«, erklärte Tilda Mayerhofer ihrem noch immer schweigsamen Gast. »Ruhen Sie sich eine Weile aus. Wenn Sie sich frisch machen wollen … Handtücher habe ich Ihnen hin gelegt. Um halb Acht gibt’s Abendbrot. Freu mich, dass Sie hier sind, Herr Brandt.« Dann ließ sie ihn allein in seinem neuen Zuhause; ließ ihn ankommen in seinen knapp zwölf Quadratmetern neue Heimat.

Noch immer hielt er den Griff seiner Tasche fest umklammert, ganz so, als wüsste er noch nicht, ob er sich auf diese vier Wände Privatheit einlassen sollte. Kein Luxus, hatte sie angemerkt. Wohl wahr, aber unendlich viel mehr, als er seit vielen Jahren besessen hat. Endlich rührte er sich von der Stelle, griff nach dem Knauf der Schranktür und öffnete sie. An der Kleiderstange hing an einem lila farbenen Seidenband ein weißes Leinensäckchen, dem ein zarter Lavendelduft entströmte. Schmerzlich erinnerte er sich an daheim, an seine Mutter; auch sie hatte ein Faible für Lavendel gehabt.

Seine wenigen Habseligkeiten waren schnell eingeräumt. Auf dem Nachttisch neben dem Bett platzierte er den neuen Radiowecker, den er sich am Morgen im Hauptbahnhof in München gekauft hatte. Auf dem Bücherbord fand das Bild seiner Schwester Amelie seinen Platz. Zärtlich strich er über die kühle Glasscheibe und spürte dabei eine kaum zu ertragende Traurigkeit.

Er setzte sich in den Sessel und schaute sich um. Eine leichte Brise blähte die Gardine auf. Der zarte Schleier berührte sacht sein Gesicht. Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich auf die Geräusche, die durch das offene Fenster an sein Ohr drangen: Vogelgezwitscher, Blätterrauschen, das leise Schnauben der Pferde; entfernt war das Geläut einer Kirchturmuhr und das leise Tuten der Ausflugsschiffe draußen auf dem See zu vernehmen. Kein Geschrei, kein blechernes Scheppern, nicht das durchdringende Knallen schwerer Türen. Keine Schlüssel drehten sich um, sperrten die Welt aus.

Ulrich wurde ruhig, die Aufregung der letzten Tage fiel von ihm ab. Er war angekommen in seinem neuen Leben. (…)
chrilie ©

foto Gabriela - fotolia.com

 

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Autor: Christa Lieb

 

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