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Christa Lieb – Autorin

»Lesefrüchtchen« Juli

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Ein anderes Leben – Teil 3 (Fortsetzung »Lesefrüchtchen« Mai/Juni)

 

Vorsichtig öffnet er die Augen und erschreckt vor seinem Spiegelbild. Ist er dieser bunte Vogel, der ihm da entgegen blickt? Die braunen Augen, der kleine Pickel auf dem rechten Nasenflügel und auch die abstehenden Ohren deuten darauf hin. Bestätigung suchend hebt er die Hand und betastet den fremdartigen Haarschopf. Er versucht das nur mühsam unterdrückte Kichern der kleinen Frisörin nicht zu beachten und schlurft mit eingezogenem Genick zur Kasse um seinen Farbenrausch teuer zu bezahlen. Dann tritt er zögernd hinaus auf die Straße, blinzelt kurz in die ungewohnte Helligkeit und geht – wie von selbst – den bekannten Weg zum Biergarten.

Sein Platz vor der grauen Betonmauer, mit Blick auf den Fluss, ist frei. Agnes – die sonst immer nette Bedienung – läuft heute mit einem mürrischen Gesicht umher und übersieht ihn geflissentlich. Ab und zu hebt er zaghaft die Hand, versucht sich bemerkbar zu machen. Vergebens. Erbarmungslos streichelt ihn die Sonne, lässt seine kupferroten Haare leuchten. Während er sich den Schweiß von der Stirn wischt, fallen ihm Konrads Worte ein: »Tu etwas!« Genau – und zwar sofort.

Ein Ruf wie Donnerhall ertönt. Erschrocken legt er danach seine Hand auf den Mund und blickt sich verstohlen um. Die anderen Gäste sehen erstaunt herüber. Ein verschrecktes, welkes Blatt segelt herab und küsst seine braunen Bartstoppeln. Der um die Tische streunende Hund klemmt den Schwanz ein und verzieht sich flugs. Agnes, die eine erstaunliche Ähnlichkeit mit seiner Traumfrau hat, eilt herbei und ein wohlbekanntes Lächeln liegt auf ihrem Gesicht. Endlich hat sie ihn beachtet.

Er sitzt noch lange zufrieden vor seinem kühlen Pils und denkt: Na also, geht doch! Und morgen kümmere ich mich um Mutter.

Christa Lieb ©

Autor: Christa Lieb

 

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