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Christa Lieb – Autorin

»Lesefrüchtchen« Oktober

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Leseprobe »Ein Sommer in Blue Bay«

(…) Lindas selbstgesetztes Limit war längst überschritten. Noch immer saß sie mit Gordon am Strand; inmitten der vielen Leute.

Verstohlen beobachtete sie, was um sie herum vor sich ging. Und es gab wahrlich viel zu sehen. Sie war sich sicher, dass die Figuren der kleinen Dramen keine Ahnung davon hatten, dass ihre Gefühle vor den Augen stummer Beobachter bloßlagen.

Da war die junge Frau mit rotem Sweatshirt, die zögernd auf diesen Norman Bishop zuging und versuchte, ihn zu umarmen. Er hielt sie auf Abstand während seine Augen sich an dem Gesicht einer attraktiven Frau festzuklammern schienen. Der junge Gitarrenspieler wiederum schmiss sein Instrument unsanft in den Koffer und stiefelte hinunter ans Wasser.

»Ich bin nicht die einzige unglückliche Person hier«, flüsterte sie.

»Warum bist du denn unglücklich?« Gordon sah sie aufmerksam an.

Sie ignorierte seine Frage. »Wer ist der junge Gitarrenspieler?«

»Bradley.«

»Und die junge Frau mit dem roten Sweatshirt?«

Gordon seufzte. »Cathy Hudson. Kompliment. Du bist eine gute Beobachterin. In kürzester Zeit hast du erfasst, was anderen seit gut einem Jahr noch nicht aufgefallen ist … Also gut. Hier die Kurzfassung: Bradley Pearson, Sohn von Molly und Wayne, ist verliebt in Cathy Hudson, die nur Augen für Norman Bishop hat. Doch der … der liebt Selma, Cathys Mutter.«

»Hört sich kompliziert an.«

»Es ist kompliziert.«

»Aber …«

»Hör zu … Die schöne Frau, die dort drüben mit Molly plaudert, das ist Selma Hudson. Mitte vierzig, sehr wohlhabend und … verwitwet. Ihr Mann ist unter bis heute nicht geklärten Umständen ums Leben gekommen. Norman Bishop fand den Sterbenden am Strand.«

»Das Kreuz … Nicht weit von hier?«

Gordon nickte. »Er konnte ihm nicht helfen. Seitdem plagt ihn ein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühl. Weiß der Geier … Dann verliebt er sich auch noch in die Frau. In seinen Augen ein No-Go … Alles Quatsch.«

»Gordon, bei dir hört sich immer alles so … so unkompliziert an. Manche Dinge sind aber für manche Menschen sehr kompliziert.«

»Es gibt Dinge, die kann man ändern. Dann sollte man das schleunigst tun. Und es gibt Dinge, die sind unumstößlich. Dann sollte man sie akzeptieren. Aber nichts tun und stattdessen stumm leiden, ist Verschwendung kostbarer Lebenszeit. Und für solch fahrlässiges Handeln habe ich nun mal kein Verständnis. Sorry, wenn sich das kaltschnäuzig anhört.«

»Mmm … Erzähl weiter.«

»Selma hat zwei Töchter. Helen, die heute Abend nicht hier ist, und Cathy. Beide studieren in Berkeley. Helen ist mit einem angehenden Rechtsanwalt aus gutem Haus verlobt und ihre kleine Schwester hat sich Norman Bishop in den Kopf gesetzt. Suche nach dem verlorenen Vater? Keine Ahnung.«

»Könnte er ihr nicht einfach sagen, dass sie sich keine falschen Hoffnungen machen soll?«

»So, könnte er das?« Gordon sah sie herausfordernd an. »Vermutlich will er es nicht wahrhaben und sie würde es möglicherweise abstreiten, sollte er sie jemals darauf ansprechen.«

»Und Bradley?«

»Auch der leidet lieber stumm. Sohn einer Farmerin und eines Zimmermanns und Cathy Hudson aus wohlhabendem Haus; das geht in seiner Birne wohl nicht zusammen. Sieht sich lieber als großen Verlierer in diesem Theaterstück, statt etwas zu wagen.«

»Puh … Geschichten für einen umfangreichen Roman. Vielleicht fühlt sich Mister Everton deshalb so wohl hier … Weil ihm hier nie der Stoff auszugehen scheint.«

Gordon nickte und sah sie aufmerksam an. Du erkennst zwar die Dramen, die sich um dich herum abspielen, liebe Linda, dachte er bei sich, aber für das, was sich gerade anbahnt, bist du blind … Wie die anderen.

Er bedachte Paul Everton mit einem wissenden Lächeln.

Der riss sich endlich vom Anblick Linda Sinclairs los. (…)

 

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Christa Lieb ©

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Autor: Christa Lieb

 

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