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Christa Lieb – Autorin

»Bitterblues« – Leseprobe

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Der Krieg war vorbei. Die Fassade des altehrwürdigen Rathauses schmückte nun keine übergroßen Reichs- und Hakenkreuzfahnen mehr, sondern in Windeseile aufgehängte schäbige, weiße Bettlaken als Zeichen der Kapitulation. Die schnarrende Stimme aus dem Volksempfänger, die bis zuletzt im Namen des Führers von glorreichen Siegen an allen Fronten und bedrohlich anzuhörende Durchhalteparolen verkündet hatte, war verstummt. Auf Jubelarien folgte Katzenjammer.

Die Erschöpfung der Menschen, die Verletzungen an Körper, Geist und Seele, die die Geschehnisse der letzten Jahre verursacht hatten, waren unermesslich. Die Ernüchterung hing wie ein undurchdringlicher Nebel über der Stadt, kroch in alle Nischen und Ritze, hinterließ eine schmerzhafte Stille. Ungläubig schauten die Menschen auf die Trümmer ihres Lebens und ihrer Stadt. In der Innenstadt, wo nur noch brüchige Außenmauern und wackelige Schornsteine in den Himmel ragten, türmten sich Schutthaufen bis zu den ehemals zweiten Etagen. Vielen Bewohnern waren sie zum Grab geworden. Der Verwesungsgeruch verschwand nur zögernd. Um den Bahnhof herum und entlang der Bahnlinie, lagen ganze Häuserzeilen in Schutt und Asche; der Schienenstrang, ehemals Nabelschnur nach draußen, war schwer beschädigt. Sobald würde hier keine Lokomotive mehr ihre dichten Dampfwolken in den Himmel pusten und keine schrillen Pfiffe vor der Einfahrt in den nahen Tunnel abgeben.

Elsa war erleichtert darüber, dass ihr ein, wenn auch löchriges, Dach über dem Kopf geblieben war. Das Haus war schwer beschädigt, aber es stand noch. Wenn sie die knarrende Tür zum Trockenboden öffnete, konnte sie durch eine große Lücke im Dach in den wolkenverhangenen Himmel schauen. Auch ihre vier Wände hatten gelitten. Zahlreiche Risse erinnerten sie an die Einschusslöcher, die die Fassade zierten. Es kostete sie viel Mühe, den ganzen Staub und Dreck zu beseitigen, die Wohnung wieder so herzurichten, dass sie sich einigermaßen wohl darin fühlte. Die zerbrochene Fensterscheibe des Schlafzimmers ersetzte sie so gut es ging durch ein derbes Holzbrett, das sie auf einem Trümmerberg in der Nachbarschaft gefunden hatte. Jetzt, während der Sommermonate, erfüllte es seinen Zweck. Für den nahenden Herbst sollte ihr eine bessere Lösung einfallen, dachte sie betrübt.

Abends, wenn der spärliche Schein einiger Kerzenstummel das helle Licht der Glühbirnen ersetzte, weil es an Strom fehlte, erinnerte sie sich an gemütliche Abende im Kreis ihrer Familie. Meist verbat sie sich solche Gedanken; sie waren zu schmerzhaft. Sie war dankbar, dass sie noch lebte, aber Freude verspürte sie keine. Sie schlief schlecht, war immer hungrig und wurde tagein, tagaus von den quälenden Sorgen um ihren Mann gepeinigt. Seit über einem Jahr hatte sie nichts mehr von Jakob gehört. Ob er noch lebt? Diese Frage nahm ihr oftmals die Luft zum Atmen, wühlte sich durch ihre Eingeweide, wie früher Onkel Theodors großes Messer, wenn er gekonnt ein Schwein zerlegte, damit sie alle etwas zum Essen hatten. Wenn die Angst um Jakob übermächtig wurde, rollte sie sich in ihrem Bett zusammen, so wie sie es früher als kleines Mädchen getan hatte, und weinte sich in einen unruhigen Schlaf voller beängstigender Bilder.

Vorsorglich brachte sie an der sperrigen Haustür einen gut sichtbaren Zettel an: Bartels – Dachgeschoss. Ihr Mann sollte sofort erkennen, dass sie noch in ihrer alten Wohnung lebte. Doch was, wenn Jakob nicht wiederkäme? (Ende Leseprobe)

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Christa Lieb ©

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Autor: Christa Lieb

 

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